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Charta Zur Bewahrung Des Digitalen Kulturerbes

Verabschiedet auf der 32. Generalkonferenz der UNESCO am 17. Oktober 2003

Inoffizielle deutsche Arbeitsübersetzung der UNESCO-Kommissionen Deutschlands, Luxemburgs,
Österreichs und der Schweiz (Originalfassung auf der Homepage der UNESCO: www.unesco.org)

Präambel

Die UNESCO-Generalkonferenz,

von der Erwägung geleitet, dass der Verlust kulturellen Erbes in jeglicher Form eine Verarmung des Erbes aller Nationen bedeutet,

erinnert daran, dass die Verfassung der UNESCO erklärt, dass die Organisation Wissen
bewahren, erweitern und verbreiten wird durch Erhaltung und Schutz des Welterbes an Büchern, Kunstwerken und Denkmälern der Geschichte und Wissenschaft, und dass ihr Programm „Information für Alle“ eine Plattform für Diskussionen und Aktionen zur Informationspolitik und für die Bewahrung des überlieferten Wissens bietet, sowie daran, dass ihr Programm „Memory of the World“ die Bewahrung und den universellen Zugang zum Dokumentenerbe der Welt sichern soll,

anerkennend, dass solche Ressourcen für Information und künstlerische Ausdrucksweisen
zunehmend in digitaler Form produziert, verbreitet, genutzt und erhalten werden und damit ein neues Vermächtnis bilden – das digitale Erbe,

eingedenk dessen, dass der Zugang zu diesem Erbe erweiterte Möglichkeiten für Entstehung, Kommunikation und Verbreitung von Wissen unter den Völkern bietet,
ist sich bewusst, dass dieses digitale Erbe in Gefahr ist, verloren zu gehen und dass seine
Erhaltung für gegenwärtige und künftige Generationen eine dringende Aufgabe von weltweiter Bedeutung ist,

verkündet die nachstehenden Grundsätze und verabschiedet die vorliegende Erklärung:

DAS DIGITALE ERBE ALS GEMEINSAMES ERBE

Artikel 1 – Geltungsbereich

Das digitale Erbe besteht aus einzigartigen Quellen menschlichen Wissens und menschlicher Ausdrucksweisen. Es umfasst Quellen aus Kultur, Bildung, Wissenschaft und Verwaltung ebenso wie technische, rechtliche, medizinische und andere Arten von Informationen, die digital erstellt oder von existierenden analogen Datenträgern in digitale Form konvertiert wurden. Falls diese Quellen originär digital erzeugt wurden, existiert kein anderes als das digitale Format.

Digitale Materialien umfassen Texte, Datenbanken, Fotografien und Filme, Audio, Grafiken,
Software und Webseiten in einer wachsenden Vielfalt von Formaten. Die Materialien sind häufig von flüchtiger Natur und erfordern zusätzliche Anstrengungen in der Produktion, in der Pflege und im Datenmanagement, um sie dauerhaft zu erhalten.

Viele dieser Quellen sind von dauerhaftem Wert und dauerhafter Bedeutung und bilden deshalb ein Erbe, das für gegenwärtige und künftige Generationen geschützt und bewahrt werden sollte. Dieses fortwährend anwachsende Erbe existiert in allen Sprachen, in allen Teilen der Welt und in jedem Bereich menschlichen Wissens und menschlicher Ausdrucksweisen.

Artikel 2 – Zugang zum digitalen Erbe

Ziel der Bewahrung des digitalen Erbes ist sicherzustellen, dass es für die Öffentlichkeit zugänglich bleibt. Entsprechend sollte der Zugang zu Materialien des digitalen Erbes, insbesondere zu gemeinfreien Materialien, frei von unverhältnismäßigen Restriktionen sein. Gleichzeitig sollten sensible und personenbezogene Informationen streng geschützt werden.

Mitgliedsstaaten sollten mit einschlägigen Organisationen und Institutionen zusammenarbeiten, um rechtliche und praktische Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Zugang zum digitalen Erbe maximieren. Ein faires Gleichgewicht zwischen den legitimen Rechten der Urheber und anderer Rechteinhaber einerseits und dem öffentlichen Interesse am Zugang zu Materialien des digitalen Erbes andererseits sollte entsprechend internationaler Normen und Vereinbarungen bekräftigt und gefördert werden.

SCHUTZ GEGEN DEN VERLUST DES DIGITALEN KULTURERBES

Artikel 3 – Der drohende Verlust

Das digitale Erbe der Welt ist in Gefahr, für die Nachwelt verloren zu gehen. Faktoren, die zu seiner Gefährdung beitragen, sind unter anderen das schnelle Veralten von Hard- und Software, mit der die Materialien erstellt wurden, Unsicherheiten über Mittel, Verantwortlichkeiten und Methoden der Pflege und des Erhalts sowie das Fehlen unterstützender Gesetzgebung.

Die Veränderungen in der professionellen und politischen Haltung haben nicht mit den
technologischen Veränderungen Schritt gehalten. Die digitale Evolution war zu schnell und zu kostspielig, als dass Regierungen und Institutionen rechtzeitig intelligente Erhaltungsstrategien hätten entwickeln können. Die Bedrohung für das ökonomische, soziale, intellektuelle und kulturelle Potenzial des Erbes – die Bausteine der Zukunft – ist daher nicht in vollem Umfang erkannt worden.

Artikel 4 – Handlungsbedarf

So lange auf die akute Bedrohung nicht reagiert wird, wird der Verlust des digitalen Erbes schnell und unumkehrbar voranschreiten. Mitgliedsstaaten werden von der Unterstützung rechtlicher, ökonomischer und technischer Maßnahmen zum Schutz des Erbes profitieren.

Bewusstseinsbildung und Engagement sind dringend, um politische Entscheidungsträger sowohl auf das Potenzial der digitalen Medien als auch auf konkrete Maßnahmen zu ihrer Erhaltung aufmerksam zu machen und die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren.

Artikel 5 – Digitale Kontinuität

Kontinuität des digitalen Erbes ist von grundlegender Bedeutung. Um das digitale Erbe zu
erhalten, sind Maßnahmen im gesamten Lebenszyklus der digitalen Information zu ergreifen, von der Erstellung bis zum Zugang. Die Langzeiterhaltung des digitalen Erbes beginnt mit der Entwicklung verlässlicher Systeme und Verfahren, die authentische und stabile digitale Objekte hervorbringen.

NOTWENDIGE MASSNAHMEN

Artikel 6 – Entwicklung von Strategien und Grundsätzen

Es müssen Strategien und Grundsätze für den Erhalt des digitalen Erbes entwickelt werden, die den Grad der Dringlichkeit, die lokalen Bedingungen, die vorhandenen Mittel und künftige Entwicklungen berücksichtigen. Dies wird durch die Zusammenarbeit von Rechteinhabern und anderen Beteiligten beim Festlegen von allgemeinen Standards und Kompatibilitäten und durch gemeinsame Nutzung von Ressourcen erleichtert.

Artikel 7 – Auswahl des zu erhaltenden Materials

Wie bei jedem dokumentarischen Erbe können die Auswahlprinzipien zwischen den einzelnen Ländern variieren, doch die Hauptkriterien, nach welchen entschieden wird, welche digitalen Materialien bewahrt werden, sind ihre Bedeutung und ihr bleibender kultureller, wissenschaftlicher, sichtbarer oder sonstiger Wert. Originär digitalen Materialien sollte klare Priorität gegeben werden. Auswahlentscheidungen und alle folgenden Überprüfungen müssen in verantwortlicher Weise getroffen werden und auf definierten Prinzipien, Grundsätzen, Verfahren und Standards beruhen.

Artikel 8 – Schutz des digitalen Erbes

Die Mitgliedsstaaten benötigen angemessene rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen, um den Schutz ihres digitalen Erbes sicherzustellen.

Als zentrales Element der nationalen Erhaltungspolitik sollte in der Archivgesetzgebung und in der gesetzlichen oder freiwilligen Abgabe an Bibliotheken, Archive, Museen und andere öffentliche Repositorien auch das digitale Erbe enthalten sein.

Der Zugang zu gesetzlich abgelieferten Materialien des digitalen Erbes sollte innerhalb zumutbarer Restriktionen sichergestellt sein, ohne ihre übliche Verwertung zu behindern.

Rechtliche und technische Rahmenbedingungen für die Sicherstellung der Authentizität sind
unabdingbar, um Manipulationen oder vorsätzliche Veränderungen am digitalen Erbe zu
verhindern. Beides erfordert, dass die Inhalte, die Funktionalität der Dateien und die
Dokumentation in dem Maße bewahrt werden, in welchem sie für die Sicherung der Authentizität notwendig sind.

Artikel 9 – Bewahrung des kulturellen Erbes

Das digitale Erbe ist von Natur aus unabhängig von Zeit, Geografie, Kultur oder Format. Es ist kulturspezifisch, aber potenziell für jede Person auf der Welt zugänglich. Minderheiten können zu Mehrheiten sprechen, das Individuum zu einem globalen Publikum.
Das digitale Erbe aller Regionen, Länder und Gemeinschaften sollte erhalten und zugänglich
gemacht werden, so dass über die Zeit hinweg alle Völker, Nationen, Kulturen und Sprachen repräsentativ vertreten sind.

VERANTWORTLICHKEITEN

Artikel 10 – Rollen und Verantwortlichkeiten

Die Mitgliedsstaaten sind eingeladen, eine oder mehrere Institutionen damit zu beauftragen, koordinierende Verantwortung für die Erhaltung des digitalen Erbes zu übernehmen und dafür die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Die arbeitsteilige Übernahme von Aufgaben und Verantwortlichkeiten könnte auf der Basis bestehender Zuständigkeiten und Expertisen erfolgen.

Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um

(a) Hard- und Software-Entwickler, Urheber, Verleger, Produzenten und Vertreiber von digitalen Materialien wie auch andere Partner aus der Privatwirtschaft nachdrücklich dazu aufzufordern, mit Nationalbibliotheken, Archiven, Museen und anderen öffentlichen Einrichtungen des kulturellen Erbes zur Erhaltung des digitalen Erbes zusammenzuarbeiten;
(b) Trainingsmaßnahmen und Forschung zu entwickeln sowie Erfahrungen und Wissen zwischen den betroffenen Institutionen und Berufsverbänden auszutauschen;

(c) Universitäten und andere, sowohl öffentliche als auch private Forschungseinrichtungen zu ermutigen, ihre Forschungsdaten zu bewahren.

Artikel 11 – Partnerschaften und Zusammenarbeit

Die Bewahrung des digitalen Erbes erfordert nachhaltige Anstrengungen seitens der Regierungen, Urheber, Verleger, relevanten Industrien und Institutionen des kulturellen Erbes.

Angesichts der derzeitigen digitalen Kluft ist es notwendig, die internationale Zusammenarbeit und Solidarität zu verstärken, damit alle Länder in die Lage versetzt werden, die Schaffung, Verbreitung, Erhaltung und dauerhafte Zugänglichkeit ihres digitalen Erbes zu sichern.

Die Industrie, die Verleger und die Massenkommunikationsmedien sind nachdrücklich
aufgefordert, ihr Wissen und ihre technische Expertise zu erweitern und zu teilen.
Die Förderung von Bildungs- und Lernprogrammen, Vereinbarungen zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen und die Verbreitung von Forschungsergebnissen und Best Practices wird den Zugang zu Techniken der digitalen Erhaltung demokratisieren.

Artikel 12 – Die Rolle der UNESCO

Der UNESCO fällt aufgrund ihres Mandats und ihrer Aufgaben die Verantwortung zu,

(a) die Grundsätze, die in der vorliegenden Charta dargelegt werden, in ihren Progammen zu berücksichtigen und ihre Implementierung zu unterstützen, sowohl innerhalb des Systems der Vereinten Nationen, als auch mit Hilfe zwischenstaatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die mit der Bewahrung des digitalen Erbes befasst sind;

(b) als Referenzstelle und Forum zu dienen, in dem Mitgliedsstaaten, zwischenstaatliche und international tätige nichtstaatliche Organisationen, die Zivilgesellschaft und der private Sektor gemeinsam Ziele, Grundsätze und Projekte für die Erhaltung des digitalen Erbes ausarbeiten können;

(c) Zusammenarbeit, Bewusstseinsbildung und die Entwicklung professioneller Kapazitäten zu fördern, sowie Richtlinien für ethische, rechtliche und technische Standards vorzuschlagen, welche die Erhaltung des digitalen Erbes unterstützen;

(d) auf der Basis der in den nächsten sechs Jahren gewonnenen Erfahrungen bei der Umsetzung der vorliegenden Charta und der Grundsätze zu entscheiden, ob Bedarf für weitere Instrumente zur Standardsetzung für die Förderung und Erhaltung des digitalen Erbes vorliegt.

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